Rede des Juroren Kai Hoelzner Vernissage am 19.02.2016 in der Kunsthalle Bremen

Kai Hoelzner, Juror
Kai Hoelzner, Juror

Eduardo Mayorga gewinnt mit seinem Projekt-Vorschlag „The Role of Fear“ den Videokunst Förderpreis Bremen 2015.
Eine dreiköpfige Jury, der Arie Hartog, Direktor des Gerhard Marx Hauses, die Vorjahrespreisträgerin des Videokunst Förderpreises, Susann Maria Hempel und ich selbst angehörten, hat sich eindeutig für Mayorgas Projekt-Vorschlag als den besten unter mehr als 200 Einreichungen ausgesprochen.

Eduardo Mayorgas Projekt „The Role of Fear“ ist eine mehrteilige und auf Fortsetzung angelegte, autobiografische Recherche ebenso wie ein suspense-reicher Überschallflug durch die Geschichte des Horrorfilms. Mayorga bedient sich dabei gleichermaßen der Perspektive des Dokumentarfilms wie des Thrillers. Er kombiniert verschiedene Genres und Techniken des Filmens und komponiert daraus eine Erzählung, in der sich sein eigenes Leben mit der Geschichte des Horror-Genres zu synchronisieren scheint. Mayorga taucht tief in in die Welt des Psycho-Schocker ein und nimmt uns, die Zuschauer seiner Filme, auf diese Reise mit.

1975 in Mexico City geboren, erfuhr Mayorga seine Ausbildung von 1999 bis 2007 zunächst am Centro Nacional de las Artes „La Esmeralda“ in Mexico City und seit 2007 an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, die er 2008 als Meisterschüler von Prof. Michael Brynntrup verließ. Von 2009 bis 2011 absolvierte Mayorga ein postgraduales Studium an der Kunsthochschule für Medien Köln. Genau genommen aber beginnt sein autodidaktisches Lernen viel früher. Bereits mit 15 bekommt er seine erste Videokamera und fängt früh an, erste filmische Gehversuche zu unternehmen. Nebenbei - das bleibt nicht aus, wenn man einmal mit dem Filmen angefangen hat - ist die Kamera sein ständiger Begleiter im Alltag. Das Archiv, das dabei entstanden ist, enthält vom alltäglichen Rumhängen mit Freunden über pornografische Filmexperimente bis hin zu eher halblegalen jugendlichen Kunstaktionen wie dem Ausschießen von Laternen mit dem Luftgewehr so ziemlich alles, was Halbwüchsige als filmenswert erachten und was Eltern und Lehrer in den Wahnsinn treiben kann.

Es ist als Glücksfall anzusehen, dass dieses Archiv nicht schamvoll in einer Kiste auf dem Dachboden versteckt oder gar gelöscht wurde, sondern als sorgsam gehüteter Schatz zum Material für eine autobiographische Recherche wurde. Erwachsenwerden, so scheint es, bedeutete für Eduardo Mayorga nicht, den Mantel des Schweigens über filmische Jugendsünden zu decken, sondern seine technischen und künstlerischen Fähigkeiten auszubilden.

Statt seriös werden zu wollen entschied sich Mayorga für den weit interessanteren Weg der künstlerischen und technischen Professionalisierung und der Reflexion.

Man darf sich vom vermeintlichen Trash des Footage-Materials ebenso wenig täuschen lassen wie man der Versuchung aufsitzen sollte zu glauben, mit dem verwackelten Bildern aus Mayorgas Jugend-Archiv solle provoziert werden.

Vieles in „The Role of Fear“ ist nach feinster Hitchcock-Manier gewebt und ausgearbeitet. Das Glas auf dem Badewannenrand in „Shivers“, jenem Film, der im Jahr von Mayorgas Geburt von David Cronenberg gedreht wurde und der deshalb im ersten Kapitels „From Crime to Art“ montiert ist, kehrt im zweiten Kapitel wieder, wenn Mayorga im Krankenhaus liegt und ein eigenartiges Präparat neben ihm auf dem Nachttisch in einem Glas steht. Der penoide „Parasit“ aus Cronenbergs Shivers kehrt im zweiten Chapter von „The Role of Fear“ nurmehr noch Präparat der Vorhaut des Künstlers wieder, der offenbar eine Beschneidung hat durchführen lassen und - ein Videokünstler ist immer im Dienst - auch das mit der Kamera festhalten musste.

Kopplungen und Verschränkungen dieser Art finden nicht nur auf der Zeitebene statt. Beachten sie etwa die Szene aus dem Film „Der Exorzist“ aus dem zweiten Kapitel „Let Jesus Fuck You“, in der Regans Mutter am Boden des Zimmers liegt, während ein Schubladenschrank sich telekinetisch getrieben auf sie zubewegt. Kurz bevor die Kommode auf Regans Mutter zu fallen droht erfolgt ein Schnitt. Im folgenden Off-Kommetar des Künstlers ist die Szene wie in einer Traumsequenz aufgehoben. Nicht nur taucht der Schubladenschrank als Case, als Kasten auf, sondern das englische Wort Case bedeutet im Deutschen ja auch Fall und korrespondiert so ein zweites Mal mit jenem Fall, den der Schrank in der abgeschnittenen Szene ausführen sollte, nun aber als doppeltes Foreshadowing auf Mayorgas psychoanalytische Erklärung der Figur Regans im Exorzisten erscheint: „In all those Cases we see young women repressing the need for affection or defense with a dysfunctional family or social environement.“

Bei aller Drastik bleibt festzuhalten, dass „The Role of Fear“ Deutungsarbeit fordert und ermöglicht. Und spätestens hier wird evident, dass Filmgeschehen in seinen gelungenen Momenten oft eine große Nähe zu Traumgeschehen hat.

Beinahe kontradiktorisch zu seiner technischen und intellektuellen Bildung bewegt sich Mayorgas Ästhetik in einer Welt der Drastik und Deutlichkeit; und wer glaubt, einer lange Ausbildung würde zwangsläufig in akademischen Etüden und formalen Spielereien münden, wird eines Besseren belehrt. Der Schärfegrad von Mayorgas Filmen sucht seinesgleichen und treibt seine Arbeit an die Grenze des gerade noch erlaubten. Psychoanalytische Exkurse über die Klassiker des Horror-Genres finden sich in Role of Fear Kader an Kader mit Sequenzen eigener pornografischer Gehversuche, jugendlichem Blödsinn, peinlichen und peinlichsten Szenen der Selbstentblößung und wiederum aufrichtigsten und tiefsten Momenten biografischer Offenheit.

Ohne jede Angst, sich und seine Kunst zu desavouieren, bedient sich Mayorga in den Regalen des Fernsehens, des Trash-Films, der High-Art, der Wissenschaft oder des Okkultismus. Dass er sich hierdurch weder bloßstellt noch dass er sich in einer Nische im Genre der Trash-Art einrichtet, liegt an seinen technischen Fähigkeiten gleichermaßen wie an seiner erzählerischen Kompetenz, seinem analytischen Blick und letztlich seiner Gabe, sein Material zu beherrschen und künstlerisch zu organisieren.

Mayorgas Role of Fear kann gelesen werden als das Portrait eines Künstlers im Zustand vollkommender Cinematografisierung. So wie Zeitgenossen des jungen Goethes sich hals- über kopf in ein literarisiertes Leben à la Werther stürzten, stürzt sich Eduardo Mayorga mit seiner ganzen Existenz in die Welt des Horror-Films. Diese buchstäbliche Besessenheit hindert ihn nicht davor, dem Zuschauer die psychologischen Mechanismen im Horror aufzudecken.

Das Berühren des Auslösers seiner Kamera scheint dabei ein- ums andere Mal einen Effekt zu haben, den das Eintauchen der Madeleine in den Tee für Proust hatte. Der „Aufnahme“-Knopf seiner Kamera ist für Mayorga das Instrument, das ihm gestattet, Verbindung zu sich selbst und mit der Welt aufzunehmen. Die Welt allerdings, in die er uns führt, ist nicht mehr die Welt von Swann, sondern eine Welt der Ängste und psychischen Abgründe.

Den zweiten Preis des 23. VKP erhielt die Künstlerin Sharlene Khan für ihre ebenfalls biografisch motivierte Arbeit „When the moon waxes red“. Die 1977 geborene Südafrikanerin untersucht darin die Geschichte der Frauen in Südafrika seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aus einer sehr persönlichen Perspektive.

Die 1977 geborene Sharlene Khan hat am Londoner Goldsmiths College studiert und mit einer Promotion in Visual Arts abgeschlossen. Ihre Arbeiten wurden bereits in zahlreichen Einzelausstellungen in Frankreich, Indien, Schweden, Südafrika, in den USA, in Qatar und in der Bundesrepublik ausgestellt.
In ihrer aktuellen Arbeit spürt Kahn der Geschichte ihrer Familie nach, die geprägt wurde von Armut, Alkoholismus und physischem Missbrauch. Hintergrund ist das britische System der Arbeitsverpflichtung, im Rahmen dessen Khans Ur-Großeltern 1860 nach Südafrika umsiedelten. Über viele Jahre hat Kahn die Erinnerungen ihrer Mutter aufgezeichnet, die tief in die bedrückende Familienhistorie führen. In ihrem Werk verbindet sie Videos, inszenierte Fotografien und handgemachte Spitzen. Letztere interpretiert Khan einerseits als Möglichkeit, sich in einem von Gewalt und Rassismus geprägten Umfeld zu behaupten, andererseits spiegeln sie die religiösen und gesellschaftlichen Konventionen wider, welche die Unterdrückung bestimmten.

Der Jury fiel das von Kahn eingereichte Projekt insbesondere durch ihren nachdenklichen und unsentimentalen Ton und ihre konsistente Bildsprache auf. Khan beruft sich auf Audre Lordes’ Auffassung von Historisierung als feministischer Aufgabe und findet für diesen letztendlich enormen Anspruch eine überzeugende Form.

Wenngleich ganz anders geartet als die Arbeiten Eduardo Mayorgas, finden sich vielfältige Parallelen zwischen den beiden Künstlern. Khans Arbeit hat einen ähnlich immersiven Charakter wie die Mayorgas. Beide Künstler arbeiten mit ihren eigenen Biografien und gehen dabei recht schonungslos und offen mit ihrer Persönlichkeit um. Kahn wie Mayorga ist ein starker Wille zur Emanzipation anzumerken, mit dem sie sich auch die entlegenen Künsten jenseits des Kunst-Mainstreams vorwagen. Seien die die drastischen Momente des Horror-Trashs und des Okkultismus oder die Gestade der Ethno-Art. Beide Künstler werden für Ihren Wagemut belohnt, indem ihnen überzeugende formale Lösungen für diese Wagnisse gelingen.

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