Videogramme einer Revolution Ein Film von Harun Farocki und Andrei Ujica. Vertriebsförderung 1992
Der Herbst 1989 blieb uns im Gedächtnis als eine Abfolge visueller Ereignisse: Prag, Berlin, Bukarest. Den Bildern nach war die Geschichte wiedergekehrt. Wir sahen Revolutionen. Und das vollständigste Revolutionsszenario lieferte Rumänien, Einheit von Zeit und Ort inbegriffen. In nur zehn Tagen und nur zwei Städten spielte sich alles ab: Aufstand des Volkes, Sturz der Macht, Hinrichtung der Herrscher.
BRD 1992, 16mm, 107 Min.
Buch und Regie: Harun Farocki und Andrei Ujica
Schnitt: Egon Bunne
Sprecher: Thomas Schulz
Produktion: Harun Farocki Filmproduktion, Bremer Institut Film/Fernsehen BIFF
Gefördert von der Berliner Filmförderung (Produktion), Filmbüro Bremen (Vertrieb)
Der einzige blutige Umsturz im Osten Europas des Jahres 1989 war die rumänische Revolution, und audiovisuelle Medien, Videokameras und Fernsehübertragungen, spielten ihre bis dahin historisch bedeutsamste Rolle. Eine revolutionäre Medienanalyse, eine zeitnahe Rekonstruktion der Ereignisse, praktische Medienkritik als kritische Geschichtsschreibung, für die „Cahiers du Cinéma“ eines der zehn subversivsten Filme aller Zeiten – und vom Filmbüro Bremen koproduziert.
Die Videogramme einer Revolution entstanden, weil Harun Farocki Andrei Ujicăs gemeinsam mit Hubertus von Amelunxen herausgegebenes Buch „Television/Revolution“ gelesen und den Medienprofessor Ujică angerufen hatte. „Wir fuhren nach Bukarest“, schreibt Farocki in „Substandart“, „um Material zu der Frage beizubringen ob – im Wortgebrauch Vilém Flussers – die Kameras die Revolution abgebildet oder eingebildet hätten. Wir stellten uns eine Erörterung vor, aber wir merkten bald, daß die gefundenen Materialien zu einer Erzählung drängten. (...) Zu einer Erzählung allerdings, deren Bruchstellen die Erörterung einschließt. Weil unsere Filmerzählung aus vorgefundenen Filmmaterialien zusammengesetzt ist, weil keine zentrale Regie den Personen vor oder hinter der Kamera Anweisungen gegeben hat, will es scheinen, als sei es die Geschichte selbst, die sich hier ausgestaltet.“ Die Videogramme werden 2005 erstmalig im rumänischen Fernsehen ausgestrahlt. „Ich glaube nicht“, schreibt der Filmkritiker Andrei Rus, „daß ein Zuschauer, der diesen Film sieht, zur davorliegenden Ruhe zurückkehren kann. Wann immer sich das Problem der Revolution stellen wird, wird er sich auf die Videogramme beziehen.“ (Irene Rudolf, 2019)
"Nach einem ersten Aufruhr in Temesvar, bei dem es der Regierung noch gelang, die Stadt zu isolieren, vollzog sich der Umsturz in Bukarest; in der Hauptstadt und vor der Kamera. Denn dort wurde der TV-Sender von Demonstranten besetzt, blieb etwa 120 Stunden auf Sendung und etablierte einen neuen historischen Ort: Das Fernsehstudio. Zwischen dem 21.12. 1989 (der letzten Rede Ceausescus) und dem 26. 12. 1989 (der ersten TV-Zusammenfassung seines Prozesses) nahmen die Kameras die Ereignisse an den wichtigsten Schauplätzen in Bukarest fast vollständig auf. Das bestimmende Medium eines Zeitabschnittes prägte schon immer die Geschichte. Die europäische Neuzeit eindeutig. Sie wurde vom Theater beeinflußt, von Shakespeare bis Schiller, danach von der Literatur, bis Tolstoi. Wir wissen es, das 20. Jahrhundert ist filmisch. Aber erst die Videokamera und ihre erhöhten Möglichkeiten in Aufzeichnungsdauer und Mobilität kann den Prozeß der Filmisierung von Geschichte vollenden. Vorausgesetzt, es gibt Geschichte. (Andrei Ujica).
Videogramme einer Revolution ist eine Provokation. Das sieht man ihm beim ersten Augenschein nicht unbedingt an, auch wenn der Titel für einen im Kino projizierten Film ungewöhnlich klingt. Der Film von Harun Farocki und Andrei Ujica, auf der "Viennale" Mitte Oktober in Wien uraufgeführt und anschließend auf der Duisburger Filmwoche gezeigt, versammelt Videobilder der rumänischen Revolution Ende 1989, und zwar in der strikten Form einer minutengenauen Chronologie der Tage vom 21. bis zum 26. Dezember. Der Titelbegriff "Videogramm" bezeichnet das, was von einer Video-Apparatur auf einem Band aufgezeichnet wurde. Der Titel selbst verspricht die Revolution als elektromagnetische Aufzeichnung und gibt den Film als audiovisuelle Geschichtsschreibung aus. Das ist hoch-, aber wie zu zeigen ist, nicht danebengegriffen. Videogramme einer Revolution gehört zu den spannendsten Dokumentarfilmen dieses Jahres. Er reißt den Zuschauer in den Strudel der Bilder der rumänischen Revolution und treibt ihn gleichzeitig immer wieder zu ihnen in Distanz. Ein keineswegs pädagogisches oder therapeutisch gemeintes Wechselbad, das wie die Lektüre eines die Geschichte aufschließenden Buches in seinem Wechsel aus Mikro- und Makroperspektive auf- und anregt."
(Dietrich Leder, Film-Dienst 24/92)
Aufführungen
Uraufführung: 12.08.1992 Locarno (Internationales Filmfestival)
Deutsche Erstaufführung: 14.11.92 Duisburg (Duisburger Filmwoche)
Kinostart: 06.05.1993
Erstsendung: 20.12.1993, West 3
2019 Bremen Rumänien Filmtage
Auszeichung: Prädikat "Wertvoll"